Teaser
Die Öffentlichkeit des bürgerlichen Salons erklärt in Alehnung an Habermas, warum Fußball so stark von Medien, Regeln und Diskursformen geprägt ist. Gegenöffentlichkeit entsteht dort, wo Fans andere Räume, Regeln und Stimmen schaffen – in Kurven, Fanprojekten und Netzwerken. Mit Debra Minkoff lässt sich gezielt auf die organisatorische Seite dieser Gegenöffentlichkeiten: Dichte, Sequenzen und Gelegenheitsstrukturen sozialer Bewegungen (Habermas 1962/1990; Minkoff 1995; 1997; Meyer & Minkoff 2004).
Hinführung
Habermas beschreibt, wie sich Öffentlichkeit historisch formt – als Raum vernünftiger Auseinandersetzung. Kritik daran (Fraser; Negt & Kluge) zeigt, dass nicht alle gleichermaßen „öffentlich“ sprechen konnten. Im Fußball sehe ich diese Spannung jeden Spieltag: Offizielle Presseräume und TV-Formate neben Kurven‑Chören, Fanzines und queeren Fanclubs. Gegenöffentlichkeit – zumindest ein Teil davon – ist hier kein Rand, sondern eine produktive Ergänzung mit eigener Regelhaftigkeit.
Habermas’ Öffentlichkeitsbegriff – auf den Fußball gelesen
- Formale Arenen: Pressekonferenzen, Vereinsmitteilungen, Verbandsregularien – Sprache der Legitimation und Kontrolle.
- Anspruch auf Allgemeinheit: „Für alle Fans“ sprechen meist wenige – Gatekeeper (Vereine, Medien) strukturieren Zugang und Deutung.
- Rationalität & Normen: Appell an „sachliche“ Argumente (Sicherheit, Wirtschaftlichkeit), die Affekte zügeln sollen – sichtbar in Stadionordnungen und Verbandsdebatten.
Von Öffentlichkeit zu Gegenöffentlichkeiten (Fraser; Negt & Kluge)
- Fraser: Mehrere subalterne Gegenöffentlichkeiten entstehen, wenn dominante Arenen exkludieren. Das passt zu Ultras, queeren Fanklubs, Faninitiativen gegen Montagsspiele: eigene Foren, eigene Regeln, eigene Sprecher:innen.
- Negt & Kluge: Erfahrungsöffentlichkeit macht Alltags- und Arbeitswelten sagbar – im Fußball: Auswärtsfahrten, Stehplatzpraxis, Block‑Ethiken.
- Ergebnis: Gegenöffentlichkeiten sind nicht „irrational“, sondern anders rational – mit affektiven, körperlichen und situativen Begründungsstilen.
Debra Minkoff: Organisation, Dichte, Sequenz
Gegenöffentlichkeiten als Organisationsökologien:
- Organizing for Equality (1995): Dauerhafte Wirkung braucht organisatorische Träger (Vereine, Fanprojekte, Netzwerke).
- The Sequencing of Social Movements (1997): Dichte von Organisationen und „Demonstrationseffekte“ erklären, wann neue Gruppen entstehen und Taktiken diffundieren – z. B. Regenbogen‑Sichtbarkeiten, Boykottformen, Choreo‑Standards.
- Political Opportunity (Meyer & Minkoff 2004): Gelegenheitsfenster (Medien, Recht, Verbände) strukturieren Erfolgsaussichten – etwa, wann Clubs offizielle queere Fanclubs anerkennen oder Fanprojekte Ressourcen erhalten.
Anwendung auf Fankultur: Gegenöffentlichkeit als Affekt‑ und Diskursordnung
- Kurven als Foren: Chöre, Spruchbänder, Choreos – kollektive Sprecherpositionen jenseits der offiziellen Kanäle.
- Queere Netzwerke (z. B. QFF): Von der Nische zur anerkannten Stimme – dank organisatorischer Dichte, Verbündeten und günstigen Gelegenheitsstrukturen.
- Fanprojekte als Übersetzer: Sie koppeln Gegenöffentlichkeiten an offizielle Arenen (Verein, Kommune) – ohne sie zu absorbieren.
Forschungstagebuch (kurz)
In meinen Notizen zu einer Podiumsdiskussion im Fanprojekt: Offizielle Vereinskommunikation verweist auf „Sachlichkeit“ (Kosten, Sicherheit). Die queere Faninitiative erzählt Erfahrung (Anfeindung, Care). Als der Moderator beide Logiken ernst nimmt und konkrete Schritte (Ansprechpersonen, Sichtbarkeitsregeln) fixiert, sehe ich Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit in produktiver Kopplung – genau der Punkt, den Minkoffs Organisationsbrille sichtbar macht.
Leitfragen
- Wo entstehen in meinem Feld subalterne Gegenöffentlichkeiten – und welche Organisationen tragen sie?
- Welche Sequenzen/Dichten begünstigen, dass Taktiken (Choreo, Boykott, Inklusion) diffundieren?
- Welche Gelegenheitsstrukturen (Medien, Recht, Verbände) öffnen/schließen Fenster für Anerkennung?
- Wie werden Affekte in Gegenöffentlichkeiten argumentativ und organisatorisch gerahmt – jenseits offizieller Rationalitätsstandards?
Literatur (APA)
- Fraser, N. (1990). Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy. In C. Calhoun (Hrsg.), Habermas and the Public Sphere (S. 56–80). MIT Press. Rethinking the public sphere: A contribution to the critique of actually existing democracy.
- Habermas, J. (1962/1990). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Suhrkamp. Strukturwandel der Öffentlichkeit
- Minkoff, D. C. (1995). Organizing for Equality: The Evolution of Women’s and Racial‑Ethnic Organizations in America, 1955–1985. Rutgers University Press. Organizing for Equality: The Evolution of Women’s and Racial‑Ethnic Organizations in America, 1955–1985
- Minkoff, D. C. (1997). The sequencing of social movements. American Sociological Review, 62(5), 779–799. The sequencing of social movements.
- Meyer, D. S., & Minkoff, D. C. (2004). Conceptualizing political opportunity. Social Forces, 82(4), 1457–1492. Conceptualizing political opportunity.
- Negt, O., & Kluge, A. (1972). Öffentlichkeit und Erfahrung. Suhrkamp. Öffentlichkeit und Erfahrung

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