2.2.3.12 Affekte im Kontext von Fankultur: Handlungstheorie und Rational Choice

Teaser

Auf den ersten Blick wirken viele Entscheidungen von Fans irrational: teure Auswärtsfahrten, Leiden „trotz besserem Wissens“, Loyalität über Generationen. In der Handlungstheorie und insbesondere im Rational-Choice-Ansatz kann ich diese Affektökonomie nachvollziehen: Affekte sind keine Gegenspieler der Rationalität, sondern Ressourcen, die zweckrational gerahmt und investiert werden (Weber 1922/1972; Coleman 1990; Esser 1999).

Hinführung

Ich lese Fankultur als Alltagshandeln unter Bedingungen knapper Ressourcen (Zeit, Geld, Aufmerksamkeit) und starker Sinn- und Zugehörigkeitsgewinne. Mit Webers Gedanke der Zweckrationalisierung von Affekten im Rücken (siehe unser Weber‑Kapitel) und Colemans Badewannen‑Logik (Mikro → Makro → Mikro) frage ich: Wie werden Gefühle in Erwartungen, Kosten‑Nutzen‑Kalküle und Regeln übersetzt – und wie entstehen daraus kollektive Phänomene wie Treueschwüre, Choreos oder Boykotte (Coleman 1990; Esser 1999; Braun 1995)?

Handlungstheorie: Akteur, Erwartungen, Situationsdeutung

In der pragmatischen Handlungsperspektive entscheidet kein „Homo Oeconomicus im Labor“, sondern ein situiertes Subjekt mit Routinen, Heuristiken und Identitätsansprüchen. Erwartungen (Erfolg, Gemeinschaft) und emotionale Nutzen (Stolz, Spannung, Trost) werden gegeneinander abgewogen; Nebenbedingungen (Budget, Zeitfenster, Familie) strukturieren die Optionen (Esser 1999). Affekte erscheinen hier nicht irrational, sondern als wertvolle Inputs der Situationsdefinition.

Rational Choice im Stadion: fünf typische Mechanismen

  1. Identitätsnutzen: Mitgliedschaft, Dauerkarten, Auswärtsfahrten stiften Sinn; der „Ertrag“ liegt in Zugehörigkeit und Selbstbild – nicht nur im Sieg (Akerlof & Kranton 2000; Esser 1999).
  2. Erwartungs‑Management: Fans antizipieren Nutzen-Pfade (Aufstieg? Derby?). Auch „Leiden“ kann rational sein, wenn es Zukunftserträge (Status, Anerkennung „echter Fans“) verspricht (Coleman 1990).
  3. Kollektive Güter & Trittbrett: Stimmung im Block ist ein öffentliches Gut; Szeneregeln (Capo, Liedfolgen, Choreokassen) reduzieren Trittbrettanreize (Olson 1965; Esser 1999).
  4. Heuristiken unter Unsicherheit: Bounded Rationality ordnet Emotionen – Faustregeln wie „Auswärts immer“ minimieren Suchkosten (Simon 1957; Gigerenzer 2007).
  5. Signaling & Reputation: Sichtbare Opfer (Zeit, Geld, Stimme) signalisieren Loyalität; Reputation zahlt sich in Status, Zugang, Vertrauen aus (Coleman 1990).

Affektökonomie: scheinbare Irrationalität, rationale Rahmung

Die Affektökonomie funktioniert, weil Gefühle knappe, begehrte und verteilte Ressourcen sind (Ahmed 2004). Vereine, Medien und Fans rationalisieren sie über Strukturen: Spielpläne, Ticketing, Membership‑Programme, Szeneregeln. Das Ergebnis wirkt „heiß“ auf der Oberfläche, aber „kalt“ organisiert im Unterbau (Weber 1922/1972). So lässt sich das Paradox auflösen: Was wie irrational aussieht, ist häufig zweckrational gerahmter Emotions‑Einsatz – zur Maximierung von Spannung, Zugehörigkeit und Anerkennung (Elias & Dunning 1986; Illouz 2007).

Mikro–Meso–Makro: Colemans Badewanne in der Kurve

  • Mikro: Individuelle Kosten‑Nutzen‑Kalküle integrieren emotionale Nutzen (Stolz, Nähe, Entlastung).
  • Meso: Szeneregeln (Capo, Kasse, Auswärtscodes) bündeln Beiträge, reduzieren Unsicherheit und erzeugen kollektive Effekte (Choreos, Gesänge).
  • Makro: Ligen, Medien, Sponsoren strukturieren Erwartungshorizonte (TV‑Slots, Montagsspiele) und beeinflussen die Mikro‑Kalküle (Coleman 1990; Kennedy & Kennedy 2012).

Forschungstagebuch (kurz)

In meinen Notizen nach drei Auswärtstouren: Die teuerste Fahrt wurde als „legendär“ bewertet – obwohl das Spiel schwach war. Entscheidend war der Identitätsnutzen (Gemeinschaft, Erzählbarkeit), nicht der sportliche Output. In der Szene‑Reflexion wurden die Kosten ex post als „Investition“ rationalisiert. Genau hier greift der Rational‑Choice‑Blick auf Affekte.

Leitfragen

  • Wie gewichten Fans emotionale gegenüber materiellen Nutzen in konkreten Entscheidungssituationen?
  • Welche Szeneregeln erhöhen Beiträge zu kollektiven Gütern (Stimmung) und senken Trittbrettanreize?
  • Wo kippt zweckrationale Affektsteuerung in Übersteuerung (Burnout, Aggression) – und wie steuern Fanprojekte gegen?
  • Welche Interventionen (Ticketing, Kommunikation) verändern Erwartungen und damit die Affektökonomie?

Literatur (APA)


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