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Mit Émile Durkheim werden Stadion, Kurve und Vereinslokal zu sozialen Orten kollektiver Ekstasen: Momente, in denen „wir“ uns verdichten, das Heilige vom Profanen trennen und dadurch Bindung erneuern. Diese Spitzen sind kein Unfall – Rituale erzeugen Gesellschaft und Affekte tragen sie (Durkheim 1912).
Warum Durkheim?
Durkheim zeigt, dass Gemeinschaft nicht nur aus Verträgen besteht, sondern aus gemeinsam erhobenen Gefühlen. In Ritualen wird das Heilige markiert (Symbole, Flaggen, Hymnen), das Profane zurückgestellt (Alltag, Zweifel), und aus der kollektiven Erregung entsteht soziale Kraft – ein Gefühl von „Wir“, das auch nach dem Abpfiff wirkt (Durkheim 1912). Für meinen Zugriff auf Affekte im Fußball ist das zentral: Ekstase ist sozial organisiert, nicht bloß individuell erlebt (Collins 2004; Rosa 2016).
Kernideen – in mein Projekt übersetzt
- Kollektive Ekstase: Hochpunkte der gemeinsamen Erregung stiften Bindung und Sinn. Die Kurve ist nicht Kulisse, sie ist Generator sozialer Energie (Durkheim 1912; Collins 2004).
- Heilig/Profan: Vereinszeichen, Farben, Hymnen, „unser“ Block – sie werden sakralisiert; bestimmte Handlungen gelten als Tabu (z. B. Pfeifen gegen die eigenen Jungen) (Durkheim 1912).
- Ritual als Technik: Rhythmus, Wiederholung, Choreografie – Rituale erzeugen Ekstase und halten sie in Bahn (Collins 2004; Elias & Dunning 1986).
- Moralische Dichte: Je enger, desto mehr Funken – körperliche Nähe, simultane Stimmen, geteilte Zeiten verdichten Erregung (Durkheim 1912).
- Nachhallen: Ekstasen kühlen ab, bleiben aber als moralische Spur in Regeln, Erzählungen, Loyalitäten – das „Wir“ wird tragfähig (Rosa 2016).
Anwendung: Durkheim × Fußball
- Vor dem Anpfiff: Hymne, Schals hoch, kollektives Atmen – das Profane weicht, das Heilige beginnt. Man „tritt ein“ (Durkheim 1912).
- Tor/Elfmeter: Sekunden der kollektiven Erhebung; Körper synchronisieren sich, Außenkommunikation bricht ab, Bündelung entsteht (Collins 2004).
- Trauer‑/Solidaritätsrituale: Schweigeminuten, Applaus in Minute XY – Sakralisierung eines Ereignisses, Neujustierung des „Wir“ (Durkheim 1912).
- Ghost Games: Ohne Publikum sinken Erregungsspitzen und Heimvorteil – die „Energiequelle“ der Dichte fällt weg (Frontiers 2021; CESifo 2020).
4R‑Heuristik: Wie Ekstase gerahmt wird
- Regeln: Ritual‑Protokolle (Einlauf, Schweigeminute), Mikro‑Normen (kein Pfeifen), Sanktionsfähigkeit bei Tabubrüchen (Durkheim 1912; Goffman 1967).
- Rituale: Call‑and‑Response, Banner‑Choreos, codierte Stille; Wiederholung baut Erwartung und Dichte auf (Collins 2004).
- Räume: Stehblöcke als Dichte‑Verstärker, Vereinslokale als Nachhall‑Räume, Hospitality als Entlastungsraum (Rosa 2016).
- Rhythmen: T‑5/T/T+5 (Anwärmen‑Peak‑Abkühlung), Saisonrituale (Derby, Jubiläum) – Zeit orchestriert Ekstase (Elias & Dunning 1986).
Kippmomente & Ambivalenzen
- Entgrenzung: Ekstase ohne Rahmung kann kippen – Aggression, Enthemmung; deshalb kontrollierte Entgrenzung (Elias & Dunning 1986).
- Exklusion: Sakralisierung kann Grenzen ziehen (Gatekeeping, Männlichkeitsnormen) – bewusst öffnende Rituale sind nötig (Eribon 2009; Ahmed 2004).
- Eventisierung: Über‑Kuratisierung entleert Sinn – „heilige“ Momente werden Deko, Affekt wird müde (Rosa 2016).
Mini‑Vignetten (Feldnotizen)
Hymne: Die ersten Takte reichen, Schultern richten sich, Gespräche reißen ab. 30 Sekunden Verdichtung – dann der Einsturz ins Spiel.Schweigeminute: Kein Wort, nur Atem. Danach donnernder Applaus. Das „Wir“ rejustiert sich – spürbar bis auf den Heimweg.Geisterspiel‑Tor: Jubel der Spieler – aber die Luft bleibt dünn. Kein Zulauf, kein Chor, der Peak verpufft (Frontiers 2021).
Forschungstagebuch (02.10.2025)
Ekstase‑Marker: Lautstärke‑Sprung, Gleichzeitigkeit (Hände, Stimme), Stillefenster, körperliche Dichte (Position im Block), Nachhall (Gespräche im Vereinslokal). Hypothese: Wo 4R kohärent sind, entstehen tragende Peaks; wo Eventisierung überfrachtet, sinkt Resonanz bei gleicher Lautstärke (Durkheim 1912; Rosa 2016).
Leitfragen
- Welche Ritual‑Bausteine erzeugen verlässlich tragende statt kurzatmige Ekstasen (Collins 2004)?
- Wie lassen sich öffnende Rituale gestalten, die Bindung ohne Exklusion stiften (Ahmed 2004; Eribon 2009)?
- Welche Dichte‑Marker (Blockstruktur, Timing) korrelieren mit Heimvorteil – und wie verändern Ghost Games das (Frontiers 2021; CESifo 2020)?
Literatur (APA 7, verlinkt)
- Ahmed, S. (2004). The cultural politics of emotion. Edinburgh University Press.
- Collins, R. (2004). Interaction ritual chains. Princeton University Press.
- Durkheim, É. (1912/1994). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Suhrkamp.
- Elias, N., & Dunning, E. (1986/2008). Quest for excitement: Sport and leisure in the civilising process. UCD Press.
- Eribon, D. (2009/2016). Rückkehr nach Reims. Suhrkamp.
- Goffman, E. (1967/1986). Interaktionsrituale. Suhrkamp.
- Rosa, H. (2016). Resonanz. Suhrkamp.
- Frontiers in Sports and Active Living. (2021). No fans – no pressure: Referees in professional football during COVID‑19.
- CESifo Working Paper. (2020). Does crowd support drive the home advantage? Evidence from German ghost games.

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