Ich nutze das Konzept einer kontrollierten Entgrenzung als theoretisches Gelenk zwischen Affekten, Regeln und Spielkultur. Mit Norbert Elias und Eric Dunning verstehe ich moderne Sportarenen als soziale Arrangements, in denen starke Erregungen nicht beseitigt, sondern gezielt erzeugt und gerahmt werden – als „tension‑balance“ zwischen Sicherheitsgewinn und Lust an der Erregung (Elias und Dunning 2008). Diese Arenen stehen in der langen Linie des Zivilisationsprozesses: Gesellschaften verlagern den Schwerpunkt historisch von Fremdzwang zu Selbstzwang; Sport formt Passformen, in denen intensives Fühlen erlaubt ist, weil es begrenzt bleibt (Elias 1976).
Begriffskern
- Entgrenzung: temporäres Aufheben/Dehnen gewöhnlicher Hemmungen (Schreien, Nähe, Ekstase).
- Kontrolle: dichte Rahmung durch Regeln, Rituale, Rollen und Sanktionen.
- Figuration: wechselwirkende Verflechtung von Akteur:innen, Institutionen und Symbolen, die Erregung ko‑produzieren (Elias und Dunning 2008).
Ich lese „kontrollierte Entgrenzung“ nicht als Paradox, sondern als Designprinzip: Intensität entsteht planvoll – durch Anstoßzeiten, Stadionsettings, Gesänge, Dramaturgien – und bleibt durch Ordnungsmittel rückholbar.
Mechanismus in drei Ebenen
- Mikro (Körper/Strategien): Publika und Akteur:innen regulieren Erregung über Auswahl, Modifikation, Aufmerksamkeit, Neubewertung und Reaktionsmodulation – etwa durch Gesang, Ironie, Atmungsrhythmen, „Runterzählen“ (Gross 1998).
- Meso (Rollen/Regeln): Vereine, Ligen und Szenen definieren Feeling‑ und Display‑Rules: Was darf wann wie gezeigt werden? Wie schnell greifen Ordner:innen, Kollektive oder Peers ein (Hochschild 1983)?
- Makro (Zivilisationsrahmen): Über längere Wellen stabilisieren Institutionen kontrollierte Ventile – Sport als legitime Arena intensiver Affekte bei zugleich wachsender Selbstkontrolle im Alltag (Elias und Dunning 2008; Elias 1976).
Was die Theorie erklärt – und was nicht
Erklärt werden wiederkehrende Muster: die Suche nach Spannung, ritualisierte Eskalation/Deeskalation, die Lust am knappen Ausgang, die Befriedung durch geregelte Konfrontation. Nicht erklärt ist alles, was die Rahmung durchbricht: Gewaltspitzen, diskriminierende Frames, ökonomische Übersteuerungen oder Ausschlüsse. Hier ergänze ich die Elias/Dunning‑Linie um Perspektiven auf Kommerzialisierung, Mediatisierung und Geschlechterordnung: Intensität wird nicht nur zivilisatorisch eingehegt, sondern auch ökonomisch produziert und geschlechtlich gerahmt (Dunning 1999; Giulianotti 2005; Connell und Messerschmidt 2005).
Arbeitsdefinition für dieses Projekt
Kontrollierte Entgrenzung bezeichnet in diesem Projekt die institutionell gerahmte Erzeugung und Rückholung hoher Affektintensität im Fußball – sichtbar in Regeln, Ritualen, Rollen und Sanktionsroutinen – mit der doppelten Funktion, Spannung zu steigern und soziale Ordnung zu bestätigen (Elias und Dunning 2008).
Beobachtungs- und Messraster (Operationalisierung)
- Regeldichte: Anzahl/Schärfe einschlägiger Stadion‑/Verbandsregeln pro Setting; Reaktionszeit von Ordner:innen/Peers (Elias und Dunning 2008).
- Ritualisiertheit: Vorkommen standardisierter Peaks (Einlauf, Choreo, 85.–95. Minute); Anteil kollektiv getragener Chants vs. spontane Shouts.
- Sanktionslogik: Sichtbare Eskalationsstufen (Ermahnung → Unterbrechung → Teilausschluss); Verhältnis „weicher“ zu „harten“ Eingriffen.
- Affektverlauf: Intensitätskurven (Lautstärke, Dichte, Bewegungsmuster) mit Peak‑Breite/-Höhe; Marker der Deeskalation (Gegen‑Chant, Ironie, Musik).
- Rollenmix: Sichtbarkeit von Peers/Capos/Ordner:innen/Schiedsrichter:innen in der Affektsteuerung; Anteil weiblich gelesener Rollen in führenden Steuerungspositionen (Connell und Messerschmidt 2005).
Kritiklinien – produktiv genutzt
- Sicherheitsventil‑Einwand: Sport sei „nur“ Ablass. Ich arbeite stattdessen mit Ko‑Produktion: Arenen erzeugen Affekte aktiv, nicht bloß ableitend (Giulianotti 2005).
- Blindfleck Gender/Klasse: Wer darf wie entgrenzen? Die Rahmung verteilt Chancen und Risiken ungleich – relevant für unsere Kapitel zu Sichtbarkeit und Ressourcen (Connell und Messerschmidt 2005).
- Medien/Ökonomie: Dramaturgien sind marktförmig verstärkt; Anstoßzeiten und Reichweiten modulieren Affektfenster (Dunning 1999; Giulianotti 2005).
Das Elias/Dunning‑Konzept verbindet Mikro‑Heuristik (Emotionsregulation) mit Meso‑Regeln und Makro‑Rahmen. So kann man ggf. empirisch zeigen, wann hohe Intensität erwünscht ist und wie sie zurückgeholt wird – anstatt „Kontrolle“ naiv gegen „Gefühl“ zu stellen (Gross 1998; Hochschild 1983; Elias 1976; Elias und Dunning 2008).
Literatur
- Connell, R. W., & Messerschmidt, J. W. (2005). Hegemonic masculinity: Rethinking the concept. Gender & Society, 19(6), 829–859.
- Dunning, E. (1999). Sport matters: Sociological studies of sport, violence and civilization. Routledge.
- Elias, N. (1976). Über den Prozeß der Zivilisation (2 Bde.; orig. 1939). Suhrkamp.
- Elias, N., & Dunning, E. (2008). Quest for excitement: Sport and leisure in the civilising process (rev. ed.; orig. 1986). UCD Press.
- Giulianotti, R. (2005). Sport: A critical sociology. Routledge.
- Gross, J. J. (1998). The emerging field of emotion regulation: An integrative review. Review of General Psychology, 2(3), 271–299.
- Hochschild, A. R. (1983). The managed heart: Commercialization of human feeling. University of California Press.

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