z_1.2.3 Vom Fan zum teilnehmenden Beobachter – Reflexivität zwischen Leidenschaft und Analyse

Teaser: Forschung im Fußballfeld ist nie neutral. Wer in der Kurve steht, singt, leidet oder jubelt, ist Teil des Geschehens – und gerade dadurch in der Lage, dichte Beschreibungen zu liefern. Dieser Beitrag zeigt, wie Positionalität, Affekte und Reflexivität methodisch zusammengehen: Leidenschaft als Motor, Analyse als Geländer.

Der Autor dieses Blogs ist teilnehmender Beobachter und forschender Fan.

Hinführung

Der erste Anpfiff im Bauch, die Trommeln im Rücken, der Chor aus tausend Kehlen – und plötzlich bin ich mehr als Beobachter: Ich bin Fan. Genau hier beginnt die methodische Arbeit. Anstatt die eigene Involviertheit zu verstecken, mache ich dies sichtbar und stelle diese Position in den selbstreflexiven Fokus: Wann mich etwas packt, wo ich Partei ergreife, wie sich der Körper meldet. So wird aus meiner Beteiligung kein Bias, sondern Datenmaterial.

Warum Positionalität zentral ist

  • Zugang & Vertrauen: Als Teil der Szene öffnen sich Türen (Interviews, informelle Gespräche, Innenperspektiven).
  • Interpretationsreichweite: Insider‑Codes, Ironien, Rituale werden schneller verstanden und präziser gedeutet.
  • Verantwortung: Sichtbar positionierte Forschende reflektieren Machtbeziehungen (Geschlecht, Klasse, Queerness, Herkunft) und markieren ihre Grenzen.

Affekte als Forschungsmaterial

Affekte sind Körperprotokolle: Gänsehaut, Kloß im Hals, der Schrei, der zu früh kommt. In der Grounded Theory werden sie nicht wegerklärt, sondern mitkodiert. Wir halten fest:

  • Auslöser (Tor, VAR, Banner, Polizeikette)
  • Form (Jubel, Schweigen, Spott, Tränen)
  • Rahmung („Tradition“, „Echtheit“, „Ungerechtigkeit“)

So entstehen Vergleichs- und Prozessmemos, die später mit Interviews, Artefakten und Medienberichten trianguliert werden.

Reflexivitäts‑Werkzeuge

  • Forschungsmemos: Kurz, zeitnah, konkret. Was habe ich gespürt? Welche Begriffe fallen mir sofort ein? Welche Deutung drängt sich auf – und welche Alternative gibt es?
  • Kodieren der eigenen Stimme: Eigene Aussagen/Notizen werden wie Fremddaten kodiert (offen → axial → selektiv).
  • KI als Spiegel: Textläufe auf wiederkehrende Marker (Scham, Trotz, „echt/gekauft“), um blinde Flecken zu entdecken.
  • Ethik‑Check: Was darf öffentlich werden? Wo braucht es Anonymisierung oder Kontextschutz?

Nähe und Distanz balancieren

  • Nähe zulassen: Involviertheit eröffnet dichte Einsichten (Gesten, Tonfall, nonverbale Mikro‑Szenen).
  • Distanz herstellen: Theorie‑Rückbindung (z. B. Habitus, Zivilisationsprozess), Gegenbelege suchen, Vergleichsfälle einziehen (andere Vereine, andere Ligen).
  • Methodenmix: Teilnehmende Beobachtung × Interviews × Artefaktanalyse × KI‑gestützte Mustererkennung.

Aus dem Forschungstagebuch

  • Memo „Nachhall“: Nach einer 0:1‑Heimniederlage Stille im Block. Ich notiere: „Stille als Affektkontrolle“. Später finde ich in Interviews die gleiche Figur: „Nach solchen Spielen redet man nicht – man nickt.“
  • Memo „Tradition als Gegenwährung“: Im Gespräch mit älteren Fans: „Die kaufen alles – wir haben Geschichte.“ → Code: Moralische Distinktion (vgl. Sozialvergleich).
  • Memo „Eigener Bias“: Meine Wut auf den VAR. KI‑Lauf zählt in meinen Notizen häufigere Marker für „Ungerechtigkeit“ als in Fremdinterviews. Folge: Gegenkodierung mit neutralem Kategorienset.

Leitfragen für Interviews & Beobachtung

  • „Wann fühlst du dich als Teil und nicht als Zuschauer:in?“
  • „Welche Situationen lassen dich schweigen statt schreien – und warum?“
  • „Wo stützt du dich auf Tradition (oder Authentizität), wenn Ergebnisse fehlen?“
  • „Welche Momente würdest du nicht öffentlich machen – und warum?“

Interne Verlinkungen

Literatur


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