
Die Dialektik der Affekte von Liebe und Schmerz
Fußball ist ein einzigartiger Ort, an dem Leidenschaft und Leiden untrennbar miteinander verwoben sind. In Anlehnung an Elias und Dunning (2024) ermöglicht der Sport eine kontrollierte Entgrenzung der Affekte – ein temporäres Ausbrechen von Emotionen, das die soziale Ordnung nicht gefährdet, sondern im Gegenteil stabilisiert. Besonders im Fußball erleben Fans dieses Spannungsverhältnis jede Saison, jeden Spieltag aufs Neue: Sie durchleben eine Achterbahn der Gefühle zwischen ekstatischer Freude und tiefer Verzweiflung, wobei das Leiden ebenso für das Fandasein steht wie die Begeisterung.
Ich selbst erinnere mich an den (erfolglosen) Abstiegskampf meines Clubs (1.FCN) in seiner letzten Bundesliga-Saison (2018/19) und an das passende Banner in der Nordkurve: „Was auch immer passiert, wir lieben dich ja sowieso“.
Was vereint Fans aller Farben in der Liebe zu einer am Ende abstrakten Organisation wie einem Fußballverein, etwas also, das man lieben, aber nicht küssen kann (frei nach Gärtner 2016)?
Soziologisch würde Pierre Bourdieu (1992) dies als Ausdruck eines spezifischen, symbolischen Habitus deuten: Zugehörigkeit konstituiert sich nicht allein über sportlichen Erfolg, sondern über alle Formen gemeinsam erlebter und erlittener Gefühlswelten.
An welch anderem Verein als dem1. FC Nürnberg zeigt sich diese Dialektik von Freud und Leid in solcher Schärfe? Irgendwie sitzen wir Fans doch alle im selben Boot. In diesem Sinne erinnere ich mich allerdings auch an ein Telefonat mit meinem Bruder, seit der Kindheit „Cluberer“:
„…Stephan, bislang habe ich gedacht, der besch… Verein, den man sich aussuchen kann ist der FCN. Aber Löwen-Fan zu sein,…“
Dieses Bonmot könnte als Ausgangspunkt dieses Projekts dienen. Es fiel anlässlich des Abstiegs des TSV 1860 München aus der 2. Bundesliga in die Regionalliga Bayern am 30. Mai 2017.
In derselben Saison 2016/17 sah ich selbst etwas Trauriges und im Sinne des Projekts Vielsagendes: das bis heute letzte Zweitligaspiel des Club gegen die 60er in der Allianz-Arena. Dieses traditionsreiche fränkisch-oberbayerische Derby vor knapp 25.000 Zuschauern in der gigantisch für 80.000 angelegten Allianz-Arena hat visuelle Narben bei mir hinterlassen. Nicht nur weil der Club das Spiel 0:2 verloren hat: Verblassende Traditionen treffen auf melancholische Gefühle der Nostalgie in einer (Allianz-)Arena, die wie kaum eine andere die gnadenlose Kommerzialisierung des Fußballs vor Augen hält. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass auch der FC Bayern regelmäßig in einer „ausverkauften“ Arena vor teils leeren Rängen spielt. Honi soit qui mal y pense!
2017/18 dann stieg mein Club als Tabellenzweiter in die Bundesliga auf. „Die Bundesliga erhält ihre Drama Queen zurück“, titelte ein Springerblatt. Der Club machte in der folgenden Saison diesem Titel alle Ehre. Vielleicht war ja schon das unglückliche 2:3 zu Hause gegen Düsseldorf am letzten Spieltag der Vorsaison ein Omen für das vorerst letzte Bundesliga-Abenteuer.
Die Liste der Aufs und Abs der Nürnberger (und anderer Vereine), gefüllt mit Worten wie „Omen„, „Vorzeichen„, „Fahrstuhlmannschaft„, „Tragik„, „typisch“ und schließlich dem FCN-eigenen Bonmot „Der Club is a Depp!“ ließe sich vom Abstieg nach dem letzten Meister-Titel Ende Ende der 1960er bis zur aktuellen Saison unendlich fortführen. Und – versprochen – wir werden sie im Rahmen dieses Projekts auch weiterführen.
Die wiederholten Abstiege und Enttäuschungen haben eine Fankultur hervorgebracht, in der Leiden nicht nur ertragen, sondern aktiv performt und mythisch überhöht wird. In Interviews betonen Fans immer wieder, dass das Durchstehen von Krisen den „wahren Cluberer“ ausmache – eine Haltung, die sich auch bei anderen „Leidensvereinen“ wie dem FC St. Pauli und seinem Erzrivalen HSV oder den Dublin Bohemians beobachten lässt. Hartmut Rosa (2016,) beschreibt Resonanz als ein Beziehungsgeschehen, das nicht in der Erfüllung, sondern oft in der Krise seine Intensität gewinne. Übertragen auf den Fußball bedeutet dies: Freud und Leid, geteilt von Fans, Spieler:innen, Verantwortlichen stiften Resonanz, weil es die emotionale Bindung an den Verein vertieft und zur kollektiven Identitätsstiftung wird. Diese Dialektik der LEIDENschaft bringt mich zu den (vorerst) zentralen Forschungsfragen des Projekts:
Transformationspraktiken
Z.B.: Welche Rituale, Gesänge oder Symbole verwandeln individuelles Leiden in (positive?) gemeinschaftsstiftende Erfahrungen (z.B.: Choreografien oder ironische Selbstthematisierung in Fangesängen)?
Inszenierung von Freud und Leid
Z.B.: Wie werden Freud und Leid in Fankulturen nicht nur passiv erlitten, sondern aktiv hervorgebracht und performativ überhöht („Pyrotechnik ist doch kein Verbrechen„)?
Vereinstypen im Vergleich
Welche Unterschiede bestehen zwischen „Erfolgsvereinen“ (FC Bayern München, Manchester City), bei denen Leiden allenfalls eine vorübergehende Phase darstellt, und „Leidensvereinen“ (. FC Nürnberg, FC St. Pauli), deren Identität im Scheitern verankert scheint?
Erving Goffman (1959) z.B. bietet mit seinem Bühnenmodell eine schöne immer wieder passende Theater-Analogie: Stadien sind Räume, in denen Fans ihre Emotionen zwischen Vorder- und Hinterbühne zeigen oder verbergen. Doch anders als im Theater sind das Leiden und die Freude hier weitaus mehr als bloße Inszenierung. Gefühle werden in den Kurven, im kleinen Streaming sowie im großen Public Viewing real, durchaus körperlich spürbar und kollektiv in der Fangemeinschaft geteilt.
Ist nicht gerade dieses paradoxe Zusammenspiel von Schmerz und Glück, von Freud und Leid der Kitt, der Fans aus allen Klassen und Schichten in allen Farben(!) und ja, auch Geschlechtern immer wieder aufs Neue zur Gemeinschaft formt? Bourdieu (1992) würde dies wohl als symbolisches Kapital beschreiben, das durch geteilte Gefühle geformt und erworben wird.
Aber sind wir dann alle 90 Minuten plus Nachspielzeit gleich? Sind wirklich alle Sozialen Ungleichheiten in diesem Momentum nivelliert?
Wir werden es sehen…?!
Literaturverzeichnis
- Bourdieu, P. (2008). Die Regeln der Kunst. Frankfurt: Suhrkamp.
- Elias, N. / Dunning, E. (2024). Sport et civilisation. La violence maîtrisée?. Paris. Fayard/Pluriel
- Gärtner, Heribert (2016): Organisationen küssen nicht. In: Leidfaden 5 (1), S. 38–41.
- Goffman, E. (1959). The presentation of self in everyday life. Doubleday.
- Keupp, Heiner (2016): Reflexive Sozialpsychologie. Wiesbaden. Springer.
- Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt: Suhrkamp.
Aus dem Forschungstagebuch:
Empirische Vertiefung
Wie inszenieren andere Leidensvereine (z. B. Union Berlin oder Augsburg im ständigen Abstiegskampf / der Traum von Hannover 96 vom Aufstieg) ihr Scheitern?
Gegenbeispiel FC Bayern: Wie geht eine Erfolgsmannschaft mit seltenen dann aber schmerzhafteren(?!) Niederlagen um? (z. B. Champions-League)
Theoretische Erweiterung
Verbindung zum Konzept der binären Diktatur: Ist das Leiden eine Form des Widerstands gegen die Ökonomisierung des Fußballs?
Queere Perspektive: Wie sichtbar oder unsichtbar erleben weibliche und/oder queere Fans (z. B. bei St. Pauli oder by Dynamo Dresden) die Dialektik von Leidenschaft/Leiden?

Schreibe einen Kommentar